Von der Sichtbarkeit

 Von der Sichtbarkeit

und / oder

Warum sie vom (Reh-) Wild so angestrengt vermieden wird

Wir alle kennen die alte Klage: „Wir haben kein Rehwild mehr! Wir sehen nämlich keines mehr!“ Wir alle wissen tief im Inneren, dass das so nicht stimmt: Es ist zwar richtig, dass wir nicht mehr so viele sehen, aber haben, haben tun wir mehr als genug! So viel, dass wir zumindest in NRW jedes Jahr mehr als 30 % der Gesamtstrecke von der Straße holen müssen.

Aber warum sehen wir keine mehr? Ganz einfach: Weil sie nicht wollen, dass wir sie sehen. Früher war das anders, wie ich auf dieser Seite schon verschiedentlich geschildert habe. Sie standen regelmäßig und meist zu mehreren auf den Wiesen. Weil sie satt werden wollten und es in dem alten Altersklassen- Fichtenwald, in den Waldbeständen einfach nichts gab, was satt machte.

Aber sie wussten (und wissen!), dass Sichtbarkeit immer gefährlich ist, deswegen standen sie, wenn sie dazu gezwungen waren, im offenen Gelände mit möglichst vielen Artgenossen zusammen. Das liegt uns (jawohl, auch uns!) einfach auf den Genen: In potentiell gefährliche Situationen, in Sichtbarkeit und damit Gefahr begeben wir uns höchst ungern allein. Das nur mit dem verachteten „Herdentrieb“ abtun zu wollen, wird der Sache nicht gerecht, das Phänomen ist für eine einfache Erklärung einfach zu vielschichtig. Versuchen wir einmal, es aus verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten.

Zunächst einmal wenden wir uns der Physik zu: Gerüche, Geräusche verlieren mit jedem Meter Distanz an Wirkung, an Eindeutigkeit, und zwar in geometrischer Potenz; sie zerfließen, verwischen, zerfasern, sind nicht mehr zweifelsfrei zuzuordnen, bilden bald nur noch ein diffuses Hintergrundrauschen. Das hängt vor allem damit zusammen, dass beide äußerst windabhängig sind, Gerüche natürlich noch mehr als Geräusche. Wind transportiert sie, er sorgt gleichzeitig aber auch für Verdünnung, Verteilung, und gar gegen den Wind geht gar nichts. Kurz: Witterung und Geräusche verlieren mit zunehmender Entfernung an Wirksamkeit, verlieren ihre Eindeutigkeit, vor allem dann, wenn sich der Emittent auch noch bewegt. Zumindest ist es für einen Beutegreifer weit mühsamer, sein Opfer allein über Witterung und Geräusche zu orten als durch die „Optik“. Sichtbarkeit unterliegt diesen Einschränkungen nämlich nicht – steht ein Zebra in der Steppe, wird der hungrige Löwe aufmerksam, egal, ob es hundert Meter oder drei Kilometer entfernt steht, egal, aus welcher Richtung der Wind weht oder ob es völlig windstill ist. Jetzt beginnt die gezielte Jagd, die wirklich gefährliche, dann auch unter Berücksichtigung des Windes, der dann zum Kumpanen wird: Es wird weiträumig umschlagen, dann gegen den Wind gepirscht – alles bestens bekannt.

Logisch ist das Ganze dann zusätzlich vor dem Hintergrund der Wahrscheinlichkeitsrechnung: Die Chance, davonzukommen, ist natürlich bei vielen möglichen Zielen rein rechnerisch einfach viel größer, als wenn ich das alleinige Ziel eines Jägers oder Aggressors bin. Es wird zur Frage des Zufalls – bei insgesamt 10 Rehen ist für jedes die Chance 10 zu 1, dass es bei einem Angriff mit heiler Haut davonkommt. Steht es allein auf weiter Fläche, kann es nur darauf hoffen, dass der Schütze verwackelt, die Wölfe sich früh verraten. Als Skatspieler würde ich sagen, ein Grand gegen vier. Manchmal geht´s gut………..

Natürlich stellt kein Reh solche Überlegungen an, das tun ja noch nicht einmal wir. Aber die Natur hat uns genau das im Laufe von zig Millionen Jahren Evolution auf die Chromosomen geschrieben und im Verhaltensrepertoire verankert; es hat sich unterm Strich und im Großen und Ganzen als wirksame Überlebensstrategie herausgestellt und damit über die Selektion verstärkt. Um das Ganze jetzt auch noch praktikabel und möglichst wirksam zu machen, hat Mutter Natur solches Verhalten dann mit Gefühlen, Empfindungen belegt und damit der Ratio entzogen, zum Reflex gemacht – wir fühlen uns, vor allem dann, wenn es gefährlich wird, in Gemeinschaft einfach „instinktiv“ besser, geborgener, sicherer, auch wenn das, rein realistisch betrachtet, manchmal ein Trugschluss ist. Karibus, Zebras, Gnus, schon Fische z. B. folgen dem und bilden Herden, riesige Schwärme. (Wohlgemerkt, das gilt für so genannte Agglomerationen, nicht für Rudel, also Familienverbände – hier sind auch andere, nämlich soziale Wirkungsmechanismen am Werk.)

Wie sehr das uralte Erbe „Vermeidung offener Flächen“ noch uns selbst beherrscht, darüber kann man sich selbst ein Bild machen. Beobachten Sie dazu sich selbst oder Ihre lieben Mitmenschen: Gehen wir in ein leeres Lokal, setzen wir uns unweigerlich an einen Tisch am Rand des Gastraums, die in der Mitte werden immer zuletzt besetzt – weil sie von allen Seiten bestens sichtbar sind und deswegen die „besseren“ am Rand einfach schon besetzt sind. Beobachten Sie mal in einer Stadt, wie die Passanten über freie Plätze gehen: Nur die wirklich Eiligen und / oder wirklich Selbstbewussten gehen auf direktem Wege quer über den Platz, alle anderen bewegen sich schön am Rande entlang, machen damit also einen Umweg und gucken sich dabei, quasi zur Entschuldigung, die Schaufenster an. Wenn Sie eine Pause im Revier machen – Sie setzen sich an den Waldrand, nie mitten auf irgendeine Wiese. Sie denken auch gar nicht darüber nach, warum Sie das tun – Sie tun´s einfach. Instinktiv! Und wenn Sie sich zum Picknick im Park mitten auf eine Wiese setzen – wetten, dass Sie dann nie allein sind bzw. sich das nur in Gemeinschaft mit Freunden trauen? Und dass Sie trotzdem, wenn es eben geht, sich zumindest unter einen Baum setzen? Wobei der Schatten da nicht ausschlaggebend ist dafür, dass wir uns unter ihn setzen. In erster Linie wichtig ist, dass wir Deckung haben.

Die Wirklichkeit

Unsere älteren Herrschaften, die sich an die alten Zeiten mit vielen Rehen auf den Wiesen noch erinnern, interpretieren das heute so: „Früher hatten wir viel mehr Rehe, da standen manchmal 10, 20 Stücke draußen auf den Wiesen!“

Die Erklärung liegt nahe, nur stimmt sie leider nicht. Das genaue Gegenteil ist der Fall – es steht zwar kein Reh mehr auf den Wiesen, aber dafür 40, 50 unsichtbar und verstreut dahinter in den Beständen, in den Himbeeren, den Anpflanzungen. Denn heute haben wir alles andere als den Wald von damals. Ganz abgesehen von den riesigen Windwurf- Flächen von Kyrill wird heute im Plenter-, Femelhieb bewirtschaftet, werden die Altfichten- Bestände ausgelichtet und mit Laubhölzern unterpflanzt, hat die Zahl der Wege und damit der Grenzlinien enorm zugenommen. Zusammen mit dem reichlichen Stickstoffeintrag über die Luft hat sich damit aber auch die verfügbare Biomasse, sprich das Nahrungsangebot, verzigfacht, und, vor allem, gibt es Nahrung im Überfluss jetzt da, wo es den Rehen in nahezu idealer Weise entgegenkommt, nämlich unmittelbar in bzw. neben den Einständen.

Um bei dem Vergleich zu bleiben: Warum sollten die sich in die Mitte des Lokals setzen, wenn es genug heimelige und verschwiegene Nischenplätze gibt? Die, die sich in die Mitte setzen müssen, sind die, die keinen Nischenplatz mehr bekommen haben. Bei den Rehen sind es die, die draußen auf den Wiesen stehen. Die meisten von ihnen leben nicht lange. Mal ganz abgesehen davon, dass sie schnell zur dankbaren Beute des Ansitzjägers werden – sie haben noch ganz andere, viel wirksamere Feinde. Sie fühlen sich selbst unwohl, sind nervös, gestresst, weichen aus, wandern. Und kommen über kurz oder lang auf den Straßen um, werden, weil dauernd unter Adrenalin, Opfer ihres geschwächten Immunsystems. Leider ist es so: Die wenigsten von ihnen werden geschossen. Eine Verschwendung an Ressourcen, die ihresgleichen sucht. Und was uns dabei an Jagdfreude entgeht! Und, last not least, der Grund für ständigen Hader mit unseren eigentlichen natürlichen Verbündeten, den Waldbesitzern und der Forstseite. Wir kommen einfach nicht daran vorbei: Wir müssen unsere Methoden ändern. Viele müssen aber erst noch wollen.

Kirchveischede, 19. Januar 2014

Manfred Nolting

Ein Jagdmensch

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